"Die Strategie kommt zuerst, dann der Rest"

Interview

5 Minuten

11.11.2019

Helmut van Rinsum

Portrait von Matthias Postel

Künstliche Intelligenz ist für jedes Unternehmen interessant, das Kunden online erreichen will. Schon mit kleinen Mitteln könne man eine Basis für eine KI schaffen und diese dann für eine personalisierte Ansprache nutzen, sagt Matthias Postel, CEO und Gründer der Digitalberatung iCompetence. Ein Interview über die Bedeutung einer widerspruchsfreien Datenbasis und die Fragen, die man sich vor dem Einsatz von KI stellen sollte.

Herr Postel, wenn man sich derzeit so umsieht, erhält man den Eindruck: In nahezu jedem Tool ist inzwischen KI drin. Und damit wird auch gleich das Versprechen mitgeliefert: Wenn Du als Kunde dieses Tool nutzt, verhilft die KI Deinem Unternehmen zu mehr Umsatz. Wie realistisch ist so eine Annahme?

Postel: Ja, die Versprechen sind groß. Aber nicht in jedem Tool ist KI drin. Da werden vorgefertigte Algorithmen oft gleichgesetzt mit KI, aber wir sollten unterscheiden: Künstliche Intelligenz fängt dort an, wo das Tool etwas lernt – wenn es nur vorgefertigte Algorithmen ausführt, ist das Automatisierung. Abgesehen davon nützt auch das beste Tool nichts, wenn die Datenbasis aufgrund inkonsequent angelegter Daten widersprüchlich ist und die KI dadurch Falsches lernt – automatisiert und so in ungebremst exponentieller Geschwindigkeit. In jedem Fall kann sich KI nur dann positiv auf den Umsatz auswirken, wenn beides zusammentrifft. Eine widerspruchsfreie Datenbasis – auch Single Point of Truth genannt –, die die richtigen Informationen liefert, und ein Algorithmus, der den Zielen des Unternehmens entspricht. Der zum Beispiel auf Umsatzsteigerungen im Zusammenhang mit Kundenbindung oder Neukundengewinnung ausgerichtet ist, wenn das gefordert ist. Sonst nützt auch KI nichts.

Beschreiben Sie doch, in welchem Entwicklungsstadium wir uns beim Einsatz vom KI im Marketing gerade befinden. Welche Versprechen wurden schon eingelöst?

Postel: Das Marketing erhofft sich von KI, die richtigen Kunden mit den richtigen Inhalten im richtigen Moment anzusprechen. Das soll – auch dank KI-gesteuerter Personalisierung – zu höheren Umsätzen oder Konversionen bei geringeren Ausgaben, also zu einer besseren Kundenbindung bei niedrigerem Personalaufwand führen. Dafür ist Echtzeit nötig, aber vor allem auch hier die widerspruchsfreie Datenbasis. Mit den vom Onlinemarketing verwendeten Daten der Webanalyse ist Echtzeit durchaus möglich. Wer aber keine solide Datenbasis angelegt und Widersprüche beseitigt hat, bekommt falsche Ergebnisse.

"Manche Ansätze klappen schon ganz gut"

Es liegt allerdings nicht allein am Unternehmen und den internen Prozessen, dass die Umsetzung von KI noch so sehr in den Anfängen steckt. Auch die Toolanbieter lernen und testen noch, Algorithmen werden allmählich feiner. Manche Ansätze, wie beispielsweise die Erkennung statistischer Zwillinge, klappen schon ganz gut, aber von wirklichem Predictive – der Vorhersage, „was ich haben wollen werde und nicht schon längst gekauft habe“ – sind wir noch ein ganzes Stück entfernt.

Welche Versprechen sind noch realitätsfern?

Postel: Der richtige Content zur richtigen Zeit auf dem richtigen Device ... Das wird mit dem aktuellen Urteil vom EUGH zu Cookies nicht einfacher. Gerade dann, wenn es um Kundenwünsche geht, darum zu wissen, aus welchem Kontext und auf welchem Weg ein Kunde zu einem gefunden hat, ob er schon mal auf meiner Webseite war und wofür er sich interessiert hat – dafür werden heute in der Regel Cookies genutzt. Studien zeigen, dass – wenn der Visitor ihnen zustimmen muss – zukünftig nur noch um die 40 Prozent der Nutzer Cookies akzeptieren werden. Drastische Einbrüche für die Personalisierung, für Retargeting und Werbetransparenz drohen, und es müssen dringend andere Wege und Anreize zur Registrierung gefunden werden. Einen Lichtblick aus Werbersicht bietet hier das Mobiltelefon, das in den letzten Jahren drastisch an Bedeutung gewonnen hat. Es sendet mit der App-Nutzung in der Regel eine Werbe-ID mit, die von den meisten Nutzern nicht regelmäßig zurückgesetzt wird. So ist ein Wiedererkennen ohne Cookies möglich.

"Die Science-Ficition-Maschine ist realitätsfern"

Derzeit vollkommen realitätsfern und nicht im Sinne des Unternehmens ist auch die Science-Fiction-Vision einer Maschine, die in einem nur von Maschinen bedienten Unternehmen letztlich mit dem CEO den letzten Mitarbeiter ersetzt. Denn die strategischen Fragen, die inhaltliche Positionierung und die Kontrolle, ob Richtung und Umsetzung stimmen, das alles muss außerhalb des maschinellen Kreislaufs bleiben.

Ist der Einsatz von KI im Unternehmen eine Frage der finanziellen Mittel oder der Datenmenge?

Postel: Ein bisschen von beidem, ja, und dann auch wieder nicht: Man braucht natürlich eine gewisse Datenmenge, um relevante Schlussfolgerungen zu ziehen. Wer keine Grundlage hat, kann keine KI nutzen. Aber es gibt kostenlose Tools – zum Beispiel von Google –, die man nutzen kann. Wer also ein bisschen Zeit für das Anlegen einer Datenbasis aufbringt, kann schon mit kleinen Mitteln eine Basis für KI schaffen und das dann für eine personalisierte Werbeansprache und Webseite nutzen. Dieser Einsatz ist für jeden interessant, der Kunden online erreichen will, auch für KMUs.

Welche Frage sollte sich ein Unternehmen zuallererst stellen, wenn man über den Einsatz von KI nachdenkt?

Postel: Das ist eine meiner Lieblingsfragen, denn sie wird viel zu selten gestellt. Zuallererst sollte sich das Unternehmen immer fragen, welches Ziel es damit verfolgt und welche Mehrwerte dadurch erreicht werden können. Die Strategie kommt zuerst, dann der Rest.

"Interne Lösung oder lieber externe Hilfe?"

Aber gleich anschließend sollte man sich mehrere Fragen stellen, bevor man mit KI loslegt: Zum Beispiel, in welchem Bereich man KI einsetzen möchte, welche Kanäle dafür relevant sind und ob eine – ausreichende – Datenbasis vorhanden ist oder ob man die erst aufbauen muss. Bevor man loslegt, sollte auch die Frage geklärt sein, ob man ausschließlich auf eine interne Lösung setzt und dafür Verantwortliche benennt, sich lieber externe Hilfe holt oder auf eine Kombination – intern mit Unterstützung von außen – setzt.

Wie wichtig ist es für den Anwender, die Entscheidungen des Algorithmus nachvollziehen zu können? Also intern Know-how aufzubauen, um beispielsweise zu verstehen, warum die KI im Bieterverfahren so und nicht anders entschieden hat.

Postel: Das ist sehr wichtig. Denn nur so kann ich wissen, ob der Algorithmus in meinem Sinn entscheidet, und welche Parameter den Algorithmus beeinflussen. Wir geben die Strategie vor, der Algorithmus soll ihr folgen und auf keinen Fall das Geschäft unkontrolliert beeinflussen. Hier gibt es bei verschiedenen Toolanbietern übrigens unterschiedliche Möglichkeiten, nicht jeder legt seine Algorithmen offen.

Ganz generell: Was macht Kollege KI mit der Unternehmenskultur? Zu welchen Veränderungen wird es kommen?

Postel: KI verändert die Unternehmenskultur auf vielen Ebenen. Oder richtiger: Die Unternehmenskultur muss sich für KI auf vielen Ebenen ändern. Das kann durchaus positiv gesehen werden. Denn wenn KI letztlich im ganzen Unternehmen und im Sinne einer Gesamtunternehmensstrategie genutzt werden soll, müssen alle an einem Strang ziehen. Mitarbeiter müssen sich enger abstimmen, alte Pfründe und Alleingänge aufgeben und über Abteilungsgrenzen hinwegdenken und kooperieren. Für KI sollte das Unternehmen stärker zusammenwachsen und auch eine offene Fehlerkultur pflegen. Das wirkt sich positiv auf die Datenbasis, die Grundlage für jede KI, aus.

"Wegfall automatisierbarer Aufgaben"

Natürlich stellt sich auch die Frage nach den Arbeitsplätzen. In absehbarer Zeit geht es dabei vor allem um den Wegfall von automatisierbaren Aufgaben. Das betrifft in der Regel Routineaufgaben, die – so unsere Erfahrung – von den meisten Unternehmen als zeitraubend empfunden werden, weil sie von den strategisch wichtigeren Aufgaben abhalten. Sicher betrifft das dann auch den einen oder anderen Arbeitsplatz, vor allem im geringqualifizierten Bereich. Aber es entstehen dafür auch neue Arbeitsplätze, die mit der Kontrolle des Systems, mit Qualitätssicherung und Strategiefragen zu tun haben. Denn ob die KI richtig entscheidet, die Algorithmen und Daten stimmen, muss an vielen Stellen geprüft und justiert werden. Aufgaben bleiben genug, sie werden allerdings anspruchsvoller. 

Das Interview führte Helmut van Rinsum

Matthias Postel gründete 2009 die Digitalberatung iCompetence GmbH, deren CEO er heute noch ist. Als einer der ersten führte er Tag Management in Deutschland ein, entwickelte  2013 mit dem Single Point of Truth (SPoT) eine Grundlage für KI und rief 2014 die Digital Intelligence Conference (DiC) ins Leben, auf der Experten Entwicklungen der Digitalbranche diskutieren. iCompetence berät Kunden aus Handel, Finance und Tourismus auf dem Weg in die digitale Zukunft.

Weitere Interviews:
Mukud Ramachandran: Die Pläne von Dynamic Yield
Ralf T. Kreutzer: "KI-Journey möglichst bald starten"

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Interview

5 Minuten

11.11.2019

Helmut van Rinsum

Portrait von Matthias Postel

Künstliche Intelligenz ist für jedes Unternehmen interessant, das Kunden online erreichen will. Schon mit kleinen Mitteln könne man eine Basis für eine KI schaffen und diese dann für eine personalisierte Ansprache nutzen, sagt Matthias Postel, CEO und Gründer der Digitalberatung iCompetence. Ein Interview über die Bedeutung einer widerspruchsfreien Datenbasis und die Fragen, die man sich vor dem Einsatz von KI stellen sollte.

Herr Postel, wenn man sich derzeit so umsieht, erhält man den Eindruck: In nahezu jedem Tool ist inzwischen KI drin. Und damit wird auch gleich das Versprechen mitgeliefert: Wenn Du als Kunde dieses Tool nutzt, verhilft die KI Deinem Unternehmen zu mehr Umsatz. Wie realistisch ist so eine Annahme?

Postel: Ja, die Versprechen sind groß. Aber nicht in jedem Tool ist KI drin. Da werden vorgefertigte Algorithmen oft gleichgesetzt mit KI, aber wir sollten unterscheiden: Künstliche Intelligenz fängt dort an, wo das Tool etwas lernt – wenn es nur vorgefertigte Algorithmen ausführt, ist das Automatisierung. Abgesehen davon nützt auch das beste Tool nichts, wenn die Datenbasis aufgrund inkonsequent angelegter Daten widersprüchlich ist und die KI dadurch Falsches lernt – automatisiert und so in ungebremst exponentieller Geschwindigkeit. In jedem Fall kann sich KI nur dann positiv auf den Umsatz auswirken, wenn beides zusammentrifft. Eine widerspruchsfreie Datenbasis – auch Single Point of Truth genannt –, die die richtigen Informationen liefert, und ein Algorithmus, der den Zielen des Unternehmens entspricht. Der zum Beispiel auf Umsatzsteigerungen im Zusammenhang mit Kundenbindung oder Neukundengewinnung ausgerichtet ist, wenn das gefordert ist. Sonst nützt auch KI nichts.

Beschreiben Sie doch, in welchem Entwicklungsstadium wir uns beim Einsatz vom KI im Marketing gerade befinden. Welche Versprechen wurden schon eingelöst?

Postel: Das Marketing erhofft sich von KI, die richtigen Kunden mit den richtigen Inhalten im richtigen Moment anzusprechen. Das soll – auch dank KI-gesteuerter Personalisierung – zu höheren Umsätzen oder Konversionen bei geringeren Ausgaben, also zu einer besseren Kundenbindung bei niedrigerem Personalaufwand führen. Dafür ist Echtzeit nötig, aber vor allem auch hier die widerspruchsfreie Datenbasis. Mit den vom Onlinemarketing verwendeten Daten der Webanalyse ist Echtzeit durchaus möglich. Wer aber keine solide Datenbasis angelegt und Widersprüche beseitigt hat, bekommt falsche Ergebnisse.

"Manche Ansätze klappen schon ganz gut"

Es liegt allerdings nicht allein am Unternehmen und den internen Prozessen, dass die Umsetzung von KI noch so sehr in den Anfängen steckt. Auch die Toolanbieter lernen und testen noch, Algorithmen werden allmählich feiner. Manche Ansätze, wie beispielsweise die Erkennung statistischer Zwillinge, klappen schon ganz gut, aber von wirklichem Predictive – der Vorhersage, „was ich haben wollen werde und nicht schon längst gekauft habe“ – sind wir noch ein ganzes Stück entfernt.

Welche Versprechen sind noch realitätsfern?

Postel: Der richtige Content zur richtigen Zeit auf dem richtigen Device ... Das wird mit dem aktuellen Urteil vom EUGH zu Cookies nicht einfacher. Gerade dann, wenn es um Kundenwünsche geht, darum zu wissen, aus welchem Kontext und auf welchem Weg ein Kunde zu einem gefunden hat, ob er schon mal auf meiner Webseite war und wofür er sich interessiert hat – dafür werden heute in der Regel Cookies genutzt. Studien zeigen, dass – wenn der Visitor ihnen zustimmen muss – zukünftig nur noch um die 40 Prozent der Nutzer Cookies akzeptieren werden. Drastische Einbrüche für die Personalisierung, für Retargeting und Werbetransparenz drohen, und es müssen dringend andere Wege und Anreize zur Registrierung gefunden werden. Einen Lichtblick aus Werbersicht bietet hier das Mobiltelefon, das in den letzten Jahren drastisch an Bedeutung gewonnen hat. Es sendet mit der App-Nutzung in der Regel eine Werbe-ID mit, die von den meisten Nutzern nicht regelmäßig zurückgesetzt wird. So ist ein Wiedererkennen ohne Cookies möglich.

"Die Science-Ficition-Maschine ist realitätsfern"

Derzeit vollkommen realitätsfern und nicht im Sinne des Unternehmens ist auch die Science-Fiction-Vision einer Maschine, die in einem nur von Maschinen bedienten Unternehmen letztlich mit dem CEO den letzten Mitarbeiter ersetzt. Denn die strategischen Fragen, die inhaltliche Positionierung und die Kontrolle, ob Richtung und Umsetzung stimmen, das alles muss außerhalb des maschinellen Kreislaufs bleiben.

Ist der Einsatz von KI im Unternehmen eine Frage der finanziellen Mittel oder der Datenmenge?

Postel: Ein bisschen von beidem, ja, und dann auch wieder nicht: Man braucht natürlich eine gewisse Datenmenge, um relevante Schlussfolgerungen zu ziehen. Wer keine Grundlage hat, kann keine KI nutzen. Aber es gibt kostenlose Tools – zum Beispiel von Google –, die man nutzen kann. Wer also ein bisschen Zeit für das Anlegen einer Datenbasis aufbringt, kann schon mit kleinen Mitteln eine Basis für KI schaffen und das dann für eine personalisierte Werbeansprache und Webseite nutzen. Dieser Einsatz ist für jeden interessant, der Kunden online erreichen will, auch für KMUs.

Welche Frage sollte sich ein Unternehmen zuallererst stellen, wenn man über den Einsatz von KI nachdenkt?

Postel: Das ist eine meiner Lieblingsfragen, denn sie wird viel zu selten gestellt. Zuallererst sollte sich das Unternehmen immer fragen, welches Ziel es damit verfolgt und welche Mehrwerte dadurch erreicht werden können. Die Strategie kommt zuerst, dann der Rest.

"Interne Lösung oder lieber externe Hilfe?"

Aber gleich anschließend sollte man sich mehrere Fragen stellen, bevor man mit KI loslegt: Zum Beispiel, in welchem Bereich man KI einsetzen möchte, welche Kanäle dafür relevant sind und ob eine – ausreichende – Datenbasis vorhanden ist oder ob man die erst aufbauen muss. Bevor man loslegt, sollte auch die Frage geklärt sein, ob man ausschließlich auf eine interne Lösung setzt und dafür Verantwortliche benennt, sich lieber externe Hilfe holt oder auf eine Kombination – intern mit Unterstützung von außen – setzt.

Wie wichtig ist es für den Anwender, die Entscheidungen des Algorithmus nachvollziehen zu können? Also intern Know-how aufzubauen, um beispielsweise zu verstehen, warum die KI im Bieterverfahren so und nicht anders entschieden hat.

Postel: Das ist sehr wichtig. Denn nur so kann ich wissen, ob der Algorithmus in meinem Sinn entscheidet, und welche Parameter den Algorithmus beeinflussen. Wir geben die Strategie vor, der Algorithmus soll ihr folgen und auf keinen Fall das Geschäft unkontrolliert beeinflussen. Hier gibt es bei verschiedenen Toolanbietern übrigens unterschiedliche Möglichkeiten, nicht jeder legt seine Algorithmen offen.

Ganz generell: Was macht Kollege KI mit der Unternehmenskultur? Zu welchen Veränderungen wird es kommen?

Postel: KI verändert die Unternehmenskultur auf vielen Ebenen. Oder richtiger: Die Unternehmenskultur muss sich für KI auf vielen Ebenen ändern. Das kann durchaus positiv gesehen werden. Denn wenn KI letztlich im ganzen Unternehmen und im Sinne einer Gesamtunternehmensstrategie genutzt werden soll, müssen alle an einem Strang ziehen. Mitarbeiter müssen sich enger abstimmen, alte Pfründe und Alleingänge aufgeben und über Abteilungsgrenzen hinwegdenken und kooperieren. Für KI sollte das Unternehmen stärker zusammenwachsen und auch eine offene Fehlerkultur pflegen. Das wirkt sich positiv auf die Datenbasis, die Grundlage für jede KI, aus.

"Wegfall automatisierbarer Aufgaben"

Natürlich stellt sich auch die Frage nach den Arbeitsplätzen. In absehbarer Zeit geht es dabei vor allem um den Wegfall von automatisierbaren Aufgaben. Das betrifft in der Regel Routineaufgaben, die – so unsere Erfahrung – von den meisten Unternehmen als zeitraubend empfunden werden, weil sie von den strategisch wichtigeren Aufgaben abhalten. Sicher betrifft das dann auch den einen oder anderen Arbeitsplatz, vor allem im geringqualifizierten Bereich. Aber es entstehen dafür auch neue Arbeitsplätze, die mit der Kontrolle des Systems, mit Qualitätssicherung und Strategiefragen zu tun haben. Denn ob die KI richtig entscheidet, die Algorithmen und Daten stimmen, muss an vielen Stellen geprüft und justiert werden. Aufgaben bleiben genug, sie werden allerdings anspruchsvoller. 

Das Interview führte Helmut van Rinsum

Matthias Postel gründete 2009 die Digitalberatung iCompetence GmbH, deren CEO er heute noch ist. Als einer der ersten führte er Tag Management in Deutschland ein, entwickelte  2013 mit dem Single Point of Truth (SPoT) eine Grundlage für KI und rief 2014 die Digital Intelligence Conference (DiC) ins Leben, auf der Experten Entwicklungen der Digitalbranche diskutieren. iCompetence berät Kunden aus Handel, Finance und Tourismus auf dem Weg in die digitale Zukunft.

Weitere Interviews:
Mukud Ramachandran: Die Pläne von Dynamic Yield
Ralf T. Kreutzer: "KI-Journey möglichst bald starten"

"Die Strategie kommt zuerst, dann der Rest"

Interview

5 Minuten

11.11.2019

Helmut van Rinsum

Portrait von Matthias Postel

Künstliche Intelligenz ist für jedes Unternehmen interessant, das Kunden online erreichen will. Schon mit kleinen Mitteln könne man eine Basis für eine KI schaffen und diese dann für eine personalisierte Ansprache nutzen, sagt Matthias Postel, CEO und Gründer der Digitalberatung iCompetence. Ein Interview über die Bedeutung einer widerspruchsfreien Datenbasis und die Fragen, die man sich vor dem Einsatz von KI stellen sollte.

Herr Postel, wenn man sich derzeit so umsieht, erhält man den Eindruck: In nahezu jedem Tool ist inzwischen KI drin. Und damit wird auch gleich das Versprechen mitgeliefert: Wenn Du als Kunde dieses Tool nutzt, verhilft die KI Deinem Unternehmen zu mehr Umsatz. Wie realistisch ist so eine Annahme?

Postel: Ja, die Versprechen sind groß. Aber nicht in jedem Tool ist KI drin. Da werden vorgefertigte Algorithmen oft gleichgesetzt mit KI, aber wir sollten unterscheiden: Künstliche Intelligenz fängt dort an, wo das Tool etwas lernt – wenn es nur vorgefertigte Algorithmen ausführt, ist das Automatisierung. Abgesehen davon nützt auch das beste Tool nichts, wenn die Datenbasis aufgrund inkonsequent angelegter Daten widersprüchlich ist und die KI dadurch Falsches lernt – automatisiert und so in ungebremst exponentieller Geschwindigkeit. In jedem Fall kann sich KI nur dann positiv auf den Umsatz auswirken, wenn beides zusammentrifft. Eine widerspruchsfreie Datenbasis – auch Single Point of Truth genannt –, die die richtigen Informationen liefert, und ein Algorithmus, der den Zielen des Unternehmens entspricht. Der zum Beispiel auf Umsatzsteigerungen im Zusammenhang mit Kundenbindung oder Neukundengewinnung ausgerichtet ist, wenn das gefordert ist. Sonst nützt auch KI nichts.

Beschreiben Sie doch, in welchem Entwicklungsstadium wir uns beim Einsatz vom KI im Marketing gerade befinden. Welche Versprechen wurden schon eingelöst?

Postel: Das Marketing erhofft sich von KI, die richtigen Kunden mit den richtigen Inhalten im richtigen Moment anzusprechen. Das soll – auch dank KI-gesteuerter Personalisierung – zu höheren Umsätzen oder Konversionen bei geringeren Ausgaben, also zu einer besseren Kundenbindung bei niedrigerem Personalaufwand führen. Dafür ist Echtzeit nötig, aber vor allem auch hier die widerspruchsfreie Datenbasis. Mit den vom Onlinemarketing verwendeten Daten der Webanalyse ist Echtzeit durchaus möglich. Wer aber keine solide Datenbasis angelegt und Widersprüche beseitigt hat, bekommt falsche Ergebnisse.

"Manche Ansätze klappen schon ganz gut"

Es liegt allerdings nicht allein am Unternehmen und den internen Prozessen, dass die Umsetzung von KI noch so sehr in den Anfängen steckt. Auch die Toolanbieter lernen und testen noch, Algorithmen werden allmählich feiner. Manche Ansätze, wie beispielsweise die Erkennung statistischer Zwillinge, klappen schon ganz gut, aber von wirklichem Predictive – der Vorhersage, „was ich haben wollen werde und nicht schon längst gekauft habe“ – sind wir noch ein ganzes Stück entfernt.

Welche Versprechen sind noch realitätsfern?

Postel: Der richtige Content zur richtigen Zeit auf dem richtigen Device ... Das wird mit dem aktuellen Urteil vom EUGH zu Cookies nicht einfacher. Gerade dann, wenn es um Kundenwünsche geht, darum zu wissen, aus welchem Kontext und auf welchem Weg ein Kunde zu einem gefunden hat, ob er schon mal auf meiner Webseite war und wofür er sich interessiert hat – dafür werden heute in der Regel Cookies genutzt. Studien zeigen, dass – wenn der Visitor ihnen zustimmen muss – zukünftig nur noch um die 40 Prozent der Nutzer Cookies akzeptieren werden. Drastische Einbrüche für die Personalisierung, für Retargeting und Werbetransparenz drohen, und es müssen dringend andere Wege und Anreize zur Registrierung gefunden werden. Einen Lichtblick aus Werbersicht bietet hier das Mobiltelefon, das in den letzten Jahren drastisch an Bedeutung gewonnen hat. Es sendet mit der App-Nutzung in der Regel eine Werbe-ID mit, die von den meisten Nutzern nicht regelmäßig zurückgesetzt wird. So ist ein Wiedererkennen ohne Cookies möglich.

"Die Science-Ficition-Maschine ist realitätsfern"

Derzeit vollkommen realitätsfern und nicht im Sinne des Unternehmens ist auch die Science-Fiction-Vision einer Maschine, die in einem nur von Maschinen bedienten Unternehmen letztlich mit dem CEO den letzten Mitarbeiter ersetzt. Denn die strategischen Fragen, die inhaltliche Positionierung und die Kontrolle, ob Richtung und Umsetzung stimmen, das alles muss außerhalb des maschinellen Kreislaufs bleiben.

Ist der Einsatz von KI im Unternehmen eine Frage der finanziellen Mittel oder der Datenmenge?

Postel: Ein bisschen von beidem, ja, und dann auch wieder nicht: Man braucht natürlich eine gewisse Datenmenge, um relevante Schlussfolgerungen zu ziehen. Wer keine Grundlage hat, kann keine KI nutzen. Aber es gibt kostenlose Tools – zum Beispiel von Google –, die man nutzen kann. Wer also ein bisschen Zeit für das Anlegen einer Datenbasis aufbringt, kann schon mit kleinen Mitteln eine Basis für KI schaffen und das dann für eine personalisierte Werbeansprache und Webseite nutzen. Dieser Einsatz ist für jeden interessant, der Kunden online erreichen will, auch für KMUs.

Welche Frage sollte sich ein Unternehmen zuallererst stellen, wenn man über den Einsatz von KI nachdenkt?

Postel: Das ist eine meiner Lieblingsfragen, denn sie wird viel zu selten gestellt. Zuallererst sollte sich das Unternehmen immer fragen, welches Ziel es damit verfolgt und welche Mehrwerte dadurch erreicht werden können. Die Strategie kommt zuerst, dann der Rest.

"Interne Lösung oder lieber externe Hilfe?"

Aber gleich anschließend sollte man sich mehrere Fragen stellen, bevor man mit KI loslegt: Zum Beispiel, in welchem Bereich man KI einsetzen möchte, welche Kanäle dafür relevant sind und ob eine – ausreichende – Datenbasis vorhanden ist oder ob man die erst aufbauen muss. Bevor man loslegt, sollte auch die Frage geklärt sein, ob man ausschließlich auf eine interne Lösung setzt und dafür Verantwortliche benennt, sich lieber externe Hilfe holt oder auf eine Kombination – intern mit Unterstützung von außen – setzt.

Wie wichtig ist es für den Anwender, die Entscheidungen des Algorithmus nachvollziehen zu können? Also intern Know-how aufzubauen, um beispielsweise zu verstehen, warum die KI im Bieterverfahren so und nicht anders entschieden hat.

Postel: Das ist sehr wichtig. Denn nur so kann ich wissen, ob der Algorithmus in meinem Sinn entscheidet, und welche Parameter den Algorithmus beeinflussen. Wir geben die Strategie vor, der Algorithmus soll ihr folgen und auf keinen Fall das Geschäft unkontrolliert beeinflussen. Hier gibt es bei verschiedenen Toolanbietern übrigens unterschiedliche Möglichkeiten, nicht jeder legt seine Algorithmen offen.

Ganz generell: Was macht Kollege KI mit der Unternehmenskultur? Zu welchen Veränderungen wird es kommen?

Postel: KI verändert die Unternehmenskultur auf vielen Ebenen. Oder richtiger: Die Unternehmenskultur muss sich für KI auf vielen Ebenen ändern. Das kann durchaus positiv gesehen werden. Denn wenn KI letztlich im ganzen Unternehmen und im Sinne einer Gesamtunternehmensstrategie genutzt werden soll, müssen alle an einem Strang ziehen. Mitarbeiter müssen sich enger abstimmen, alte Pfründe und Alleingänge aufgeben und über Abteilungsgrenzen hinwegdenken und kooperieren. Für KI sollte das Unternehmen stärker zusammenwachsen und auch eine offene Fehlerkultur pflegen. Das wirkt sich positiv auf die Datenbasis, die Grundlage für jede KI, aus.

"Wegfall automatisierbarer Aufgaben"

Natürlich stellt sich auch die Frage nach den Arbeitsplätzen. In absehbarer Zeit geht es dabei vor allem um den Wegfall von automatisierbaren Aufgaben. Das betrifft in der Regel Routineaufgaben, die – so unsere Erfahrung – von den meisten Unternehmen als zeitraubend empfunden werden, weil sie von den strategisch wichtigeren Aufgaben abhalten. Sicher betrifft das dann auch den einen oder anderen Arbeitsplatz, vor allem im geringqualifizierten Bereich. Aber es entstehen dafür auch neue Arbeitsplätze, die mit der Kontrolle des Systems, mit Qualitätssicherung und Strategiefragen zu tun haben. Denn ob die KI richtig entscheidet, die Algorithmen und Daten stimmen, muss an vielen Stellen geprüft und justiert werden. Aufgaben bleiben genug, sie werden allerdings anspruchsvoller. 

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