KI-Revolution im Spiegel der Zeit: Was wir vom MarTech-Boom lernen können

Insight

6 Minuten

13.01.2025

Die Technologiebranche erlebt gerade ein faszinierendes Déjà Vu. Der aktuelle KI-Boom weist verblüffende Parallelen zum MarTech-Boom der 2010er Jahre auf – und doch ist diesmal alles anders. Für Unternehmen bietet dieser Vergleich wertvolle Denkanstöße für ihre digitale Zukunft. Ein Fachbeitrag von David Novakovic, KI-Consultant bei IBM iX.

Von MarTech zu KI: eine Geschichte der Transformation

Erinnern wir uns: Der MarTech-Boom versprach damals nichts weniger als die Revolution des Marketings.Zwischen 2011 und 2020 explodierte die Zahl der Anbieter von bescheidenen 150 auf über 8.000. Jedes Tool wollte das Marketing effizienter, datengetriebener und automatisierter machen. Heute erleben wir eine ähnliche Explosion im KI-Sektor, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Während MarTech lediglich einen spezifischen Unternehmensbereich transformierte, greift KI tief in die DNA eines jeden Geschäftsprozesses ein.

Auch die vergleichsweise einfache Entwicklung neuer KI-Tools wird bei einem Website Besuch auf There’s an ai for that durch die sage und schreibe 23.551 KIs für 15.641 Tasks und 4.879 Jobs schnell deutlich. Will sagen: Heutzutage kann jeder einen Chatbot bauen, einen System-Prompt dahinterklemmen und ein paar Dokumente anreichern und damit Geld verdienen. Deshalb sollte man sich genau anschauen, wie etwas betrieben wird, bevor man es nutzt. Auch der Hype Cycle von Gartner zeigt, dass wir uns auf dem Weg ins Tal der Enttäuschung befinden und lässt darauf schließen, dass sich einige der Anbieter bereits in ein paar Monaten nicht mehr auf der Liste befinden werden.

Die Parallelen zu MarTech sind verblüffend: In nur zwei Jahren ist die KI-Landschaft von einer Handvoll Pioniere auf über 5.000 Startups angewachsen. Jedes verspricht, die Art und Weise zu revolutionieren, wie wir arbeiten, Entscheidungen treffen oder Werte schaffen. Doch mit dem explosiven Wachstum kehren auch bekannte Herausforderungen zurück.

Die Integrationsfalle 2.0

Unternehmen stehen heute vor einem ähnlichen Dilemma wie damals: Wie integriert man eine Vielzahl von Lösungen zu einem kohärenten Ganzen? Wohin mit den Daten und wie sicher speichern und verarbeiten? On-Prem oder doch auf der Cloud?
Die "KI-Stack-Fragmentierung" erinnert damit stark an die Integrationsprobleme der MarTech-Ära – nur in komplexer. Während es damals um die Vernetzung von Marketing-Tools ging, müssen heute KI-Lösungen bereichsübergreifend harmonieren.

Neue Spielregeln, neue Chancen

Doch es wäre zu einfach, die KI-Revolution als bloße Wiederholung zu sehen. Die globale Dimension schafft neue Dynamiken: Anders als beim MarTech-Boom, der stark vom Silicon Valley geprägt war, entstehen KI-Innovationszentren weltweit – von Tel Aviv bis Toronto. Diese geografische Vielfalt bringt nicht nur neue Perspektiven, sondern auch komplexere regulatorische Anforderungen mit sich.

So spielt beispielsweise der Nachhaltigkeitsaspekt eine völlig neue Rolle. Entsprechend rückt der Energieverbrauch von KI-Systemen zunehmend in den Fokus – ein Faktor, der bei MarTech-Entscheidungen irrelevant war. Heißt im Klartext: Unternehmen müssen heute nicht nur die funktionale Integration, sondern auch die ökologischen Auswirkungen ihrer Tech-Stack-Entscheidungen im Blick haben.

Viele von ihnen haben zudem eine weitere zentrale Sorge, die lange vor der nachhaltigen Energieversorgung kommt: die Pricing Problematik. Dazu sollte man sich bewusst machen, dass man bei der Nutzung von generativer KI nicht nur die Ergebnisse bzw. Antworten bezahlt, sondern auch die Worte aka Token, die man als Prompt eingibt. Es wird also gleich doppelt abgerechnet, einmal vorne und einmal hinten. Das sogenannte Inferencing sorgt für einen echten Goldrausch, denn das Verarbeiten und Analysieren ist ein riesiger ungehobener Schatz in Form von ungenutzten Daten aller Firmen und Organisationen, der noch auf Papier, Harddrives oder lokalen Speichern aufbewahrt wird und stetig weiterwächst.

KI-Transformation 2024: Ein pragmatischer Ansatz für Unternehmen

Was bedeutet das nun für Entscheider*innen? Die Erfahrungen aus dem MarTech-Boom lehren uns: Nachhaltiges Wachstum schlägt schnelle Expansion. Unternehmen sollten sich auf klare Problem-Solution-Fits konzentrieren, statt jedem Trend hinterherzulaufen. Der Schlüssel liegt daher nicht per se in der breiten Einführung von KI-Tools, sondern in der gezielten Lösung spezifischer Probleme. Dabei gibt es vor allem drei grundlegende Herausforderungen:

1. KI-Literacy

Einer der Gründe, warum wir aktuell im Hype Cycle ins Tal der Enttäuschung schlittern, ist das fehlende Verständnis der tatsächlichen Capabilities von KI und generativer KI. Es fällt häufig nicht nur die Unterscheidung zwischen den beiden schwer, sondern es hapert auch an der Art, auf Prozesse zu schauen und sie neu zu denken. Man will ja nicht bestehende Dinge optimieren, die von vorneherein keinen Sinn ergeben, oder? Aber um genau diese neue Art des Denkens zu ermöglichen, braucht es:

2. Enablement & Raum für Innovation

Es mag ja sein, dass der größte Value von KI in der konkreten Lösung von spezifischen Teilprozessen liegt, aktuell kann man allein schon mit Large Language Modellen (LLM) seinen Mitarbeiter*innen einen Coworker zur Seite stellen, der im Alltag unterstützt. Deshalb ist es umso wichtiger, allen Mitarbeiter*innen die Möglichkeit zu geben, mit der Technologie zu experimentieren und zu üben. Gut möglich, dass die großen Potenziale erst gehoben werden können, wenn eine kritische Masse der Organisation genug Erfahrungen gemacht hat, um die aktuellen Capabilities zu nutzen und sich auf Basis dessen eine eigene Lösung zu erarbeiten.

3. Domain-Wissen

Jeder schaut in Richtung KI-Expert*innen, aber erfolgreiche Unternehmen setzen auf einen hybriden Ansatz: KI-Expert*innen arbeiten Hand in Hand mit Domain-Expert*innen. Diese Kombination garantiert, dass technologische Innovation und praktische Anwendbarkeit im Gleichgewicht bleiben. Denn gerade heute, wo sich ganze Applikationen nur per Sprachbefehl entwickeln lassen, ist es einfach, eine Anwendung zu bauen und noch einfacher diese an den eigentlichen Bedürfnissen und Anforderungen der Domäne zu orientieren.

4. KI-Agenten suchen ein Zuhause

Ähnlich wie in der MarTech-Bubble ergibt sich aus der Vielzahl der Tools ein Spannungsfeld zwischen zu vielen Tools und zu wenig Anbindung. Im Kontext von KI wird dies bei Agentic AI Use-Cases deutlich. Man spricht zunächst von Agentic AI, wenn ein KI -Modell Zugriff auf verschiedene Werkzeuge wie bspw. einen Taschenrechner hat. Hierbei halluziniert dann kein LLM mehr über die Summe von 3+3, sondern nutzt einen Taschenrechner und liefert das Ergebnis über das LLM zurück an den User bzw. die Userin. Lässt man die verschiedenen KI-Agenten von der Leine, stellt sich schnell die Aufgabe, diese auch wieder untereinander zu orchestrieren, ohne zig User Interfaces zu bauen und eine neue Ära des Copy & Paste zu erschaffen.

Blick in die Zukunft

Die Geschichte lehrt uns: Nach jedem Boom folgt eine Konsolidierung. Doch die KI-Revolution ist mehr als ein weiterer Technologie-Hype. Sie verändert fundamental, wie Unternehmen Wert schaffen und mit ihren Kunden interagieren. Die Gewinner werden jene sein, die aus den Mustern der Vergangenheit lernen und gleichzeitig die spezifischen Chancen und Herausforderungen erkennen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt nicht darin, blind dem Hype Cycle zu folgen, sondern KI sinnvoll als strategisches Werkzeug der digitalen Transformation zu nutzen. Zentral dabei: die Einführung eines KI-Governance-Boards, das quartalsweise die Strategie überprüft und anpasst.

Unternehmen, die das verstehen, werden die nächste Phase der technologischen Evolution nicht nur überstehen, sondern aktiv mitgestalten. Denn diese Agilität ist entscheidend in einem Markt, der sich ständig weiterentwickelt.

Der Autor: David Novakovic ist KI-Consultant bei IBM iX und führt als Co-Lead die Practice Data & AI mit Fokus auf Customer Experience in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In dieser Rolle unterstützt er eine Vielzahl an Organisationen bei der digitalen Transformation in Richtung KI und der Entwicklung von neuen ganzheitlichen KI-Lösungen.

KI-Revolution im Spiegel der Zeit: Was wir vom MarTech-Boom lernen können

Insight

6 Minuten

13.01.2025

Die Technologiebranche erlebt gerade ein faszinierendes Déjà Vu. Der aktuelle KI-Boom weist verblüffende Parallelen zum MarTech-Boom der 2010er Jahre auf – und doch ist diesmal alles anders. Für Unternehmen bietet dieser Vergleich wertvolle Denkanstöße für ihre digitale Zukunft. Ein Fachbeitrag von David Novakovic, KI-Consultant bei IBM iX.

Von MarTech zu KI: eine Geschichte der Transformation

Erinnern wir uns: Der MarTech-Boom versprach damals nichts weniger als die Revolution des Marketings.Zwischen 2011 und 2020 explodierte die Zahl der Anbieter von bescheidenen 150 auf über 8.000. Jedes Tool wollte das Marketing effizienter, datengetriebener und automatisierter machen. Heute erleben wir eine ähnliche Explosion im KI-Sektor, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Während MarTech lediglich einen spezifischen Unternehmensbereich transformierte, greift KI tief in die DNA eines jeden Geschäftsprozesses ein.

Auch die vergleichsweise einfache Entwicklung neuer KI-Tools wird bei einem Website Besuch auf There’s an ai for that durch die sage und schreibe 23.551 KIs für 15.641 Tasks und 4.879 Jobs schnell deutlich. Will sagen: Heutzutage kann jeder einen Chatbot bauen, einen System-Prompt dahinterklemmen und ein paar Dokumente anreichern und damit Geld verdienen. Deshalb sollte man sich genau anschauen, wie etwas betrieben wird, bevor man es nutzt. Auch der Hype Cycle von Gartner zeigt, dass wir uns auf dem Weg ins Tal der Enttäuschung befinden und lässt darauf schließen, dass sich einige der Anbieter bereits in ein paar Monaten nicht mehr auf der Liste befinden werden.

Die Parallelen zu MarTech sind verblüffend: In nur zwei Jahren ist die KI-Landschaft von einer Handvoll Pioniere auf über 5.000 Startups angewachsen. Jedes verspricht, die Art und Weise zu revolutionieren, wie wir arbeiten, Entscheidungen treffen oder Werte schaffen. Doch mit dem explosiven Wachstum kehren auch bekannte Herausforderungen zurück.

Die Integrationsfalle 2.0

Unternehmen stehen heute vor einem ähnlichen Dilemma wie damals: Wie integriert man eine Vielzahl von Lösungen zu einem kohärenten Ganzen? Wohin mit den Daten und wie sicher speichern und verarbeiten? On-Prem oder doch auf der Cloud?
Die "KI-Stack-Fragmentierung" erinnert damit stark an die Integrationsprobleme der MarTech-Ära – nur in komplexer. Während es damals um die Vernetzung von Marketing-Tools ging, müssen heute KI-Lösungen bereichsübergreifend harmonieren.

Neue Spielregeln, neue Chancen

Doch es wäre zu einfach, die KI-Revolution als bloße Wiederholung zu sehen. Die globale Dimension schafft neue Dynamiken: Anders als beim MarTech-Boom, der stark vom Silicon Valley geprägt war, entstehen KI-Innovationszentren weltweit – von Tel Aviv bis Toronto. Diese geografische Vielfalt bringt nicht nur neue Perspektiven, sondern auch komplexere regulatorische Anforderungen mit sich.

So spielt beispielsweise der Nachhaltigkeitsaspekt eine völlig neue Rolle. Entsprechend rückt der Energieverbrauch von KI-Systemen zunehmend in den Fokus – ein Faktor, der bei MarTech-Entscheidungen irrelevant war. Heißt im Klartext: Unternehmen müssen heute nicht nur die funktionale Integration, sondern auch die ökologischen Auswirkungen ihrer Tech-Stack-Entscheidungen im Blick haben.

Viele von ihnen haben zudem eine weitere zentrale Sorge, die lange vor der nachhaltigen Energieversorgung kommt: die Pricing Problematik. Dazu sollte man sich bewusst machen, dass man bei der Nutzung von generativer KI nicht nur die Ergebnisse bzw. Antworten bezahlt, sondern auch die Worte aka Token, die man als Prompt eingibt. Es wird also gleich doppelt abgerechnet, einmal vorne und einmal hinten. Das sogenannte Inferencing sorgt für einen echten Goldrausch, denn das Verarbeiten und Analysieren ist ein riesiger ungehobener Schatz in Form von ungenutzten Daten aller Firmen und Organisationen, der noch auf Papier, Harddrives oder lokalen Speichern aufbewahrt wird und stetig weiterwächst.

KI-Transformation 2024: Ein pragmatischer Ansatz für Unternehmen

Was bedeutet das nun für Entscheider*innen? Die Erfahrungen aus dem MarTech-Boom lehren uns: Nachhaltiges Wachstum schlägt schnelle Expansion. Unternehmen sollten sich auf klare Problem-Solution-Fits konzentrieren, statt jedem Trend hinterherzulaufen. Der Schlüssel liegt daher nicht per se in der breiten Einführung von KI-Tools, sondern in der gezielten Lösung spezifischer Probleme. Dabei gibt es vor allem drei grundlegende Herausforderungen:

1. KI-Literacy

Einer der Gründe, warum wir aktuell im Hype Cycle ins Tal der Enttäuschung schlittern, ist das fehlende Verständnis der tatsächlichen Capabilities von KI und generativer KI. Es fällt häufig nicht nur die Unterscheidung zwischen den beiden schwer, sondern es hapert auch an der Art, auf Prozesse zu schauen und sie neu zu denken. Man will ja nicht bestehende Dinge optimieren, die von vorneherein keinen Sinn ergeben, oder? Aber um genau diese neue Art des Denkens zu ermöglichen, braucht es:

2. Enablement & Raum für Innovation

Es mag ja sein, dass der größte Value von KI in der konkreten Lösung von spezifischen Teilprozessen liegt, aktuell kann man allein schon mit Large Language Modellen (LLM) seinen Mitarbeiter*innen einen Coworker zur Seite stellen, der im Alltag unterstützt. Deshalb ist es umso wichtiger, allen Mitarbeiter*innen die Möglichkeit zu geben, mit der Technologie zu experimentieren und zu üben. Gut möglich, dass die großen Potenziale erst gehoben werden können, wenn eine kritische Masse der Organisation genug Erfahrungen gemacht hat, um die aktuellen Capabilities zu nutzen und sich auf Basis dessen eine eigene Lösung zu erarbeiten.

3. Domain-Wissen

Jeder schaut in Richtung KI-Expert*innen, aber erfolgreiche Unternehmen setzen auf einen hybriden Ansatz: KI-Expert*innen arbeiten Hand in Hand mit Domain-Expert*innen. Diese Kombination garantiert, dass technologische Innovation und praktische Anwendbarkeit im Gleichgewicht bleiben. Denn gerade heute, wo sich ganze Applikationen nur per Sprachbefehl entwickeln lassen, ist es einfach, eine Anwendung zu bauen und noch einfacher diese an den eigentlichen Bedürfnissen und Anforderungen der Domäne zu orientieren.

4. KI-Agenten suchen ein Zuhause

Ähnlich wie in der MarTech-Bubble ergibt sich aus der Vielzahl der Tools ein Spannungsfeld zwischen zu vielen Tools und zu wenig Anbindung. Im Kontext von KI wird dies bei Agentic AI Use-Cases deutlich. Man spricht zunächst von Agentic AI, wenn ein KI -Modell Zugriff auf verschiedene Werkzeuge wie bspw. einen Taschenrechner hat. Hierbei halluziniert dann kein LLM mehr über die Summe von 3+3, sondern nutzt einen Taschenrechner und liefert das Ergebnis über das LLM zurück an den User bzw. die Userin. Lässt man die verschiedenen KI-Agenten von der Leine, stellt sich schnell die Aufgabe, diese auch wieder untereinander zu orchestrieren, ohne zig User Interfaces zu bauen und eine neue Ära des Copy & Paste zu erschaffen.

Blick in die Zukunft

Die Geschichte lehrt uns: Nach jedem Boom folgt eine Konsolidierung. Doch die KI-Revolution ist mehr als ein weiterer Technologie-Hype. Sie verändert fundamental, wie Unternehmen Wert schaffen und mit ihren Kunden interagieren. Die Gewinner werden jene sein, die aus den Mustern der Vergangenheit lernen und gleichzeitig die spezifischen Chancen und Herausforderungen erkennen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt nicht darin, blind dem Hype Cycle zu folgen, sondern KI sinnvoll als strategisches Werkzeug der digitalen Transformation zu nutzen. Zentral dabei: die Einführung eines KI-Governance-Boards, das quartalsweise die Strategie überprüft und anpasst.

Unternehmen, die das verstehen, werden die nächste Phase der technologischen Evolution nicht nur überstehen, sondern aktiv mitgestalten. Denn diese Agilität ist entscheidend in einem Markt, der sich ständig weiterentwickelt.

Der Autor: David Novakovic ist KI-Consultant bei IBM iX und führt als Co-Lead die Practice Data & AI mit Fokus auf Customer Experience in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In dieser Rolle unterstützt er eine Vielzahl an Organisationen bei der digitalen Transformation in Richtung KI und der Entwicklung von neuen ganzheitlichen KI-Lösungen.

KI-Revolution im Spiegel der Zeit: Was wir vom MarTech-Boom lernen können

Insight

6 Minuten

13.01.2025

Die Technologiebranche erlebt gerade ein faszinierendes Déjà Vu. Der aktuelle KI-Boom weist verblüffende Parallelen zum MarTech-Boom der 2010er Jahre auf – und doch ist diesmal alles anders. Für Unternehmen bietet dieser Vergleich wertvolle Denkanstöße für ihre digitale Zukunft. Ein Fachbeitrag von David Novakovic, KI-Consultant bei IBM iX.

Von MarTech zu KI: eine Geschichte der Transformation

Erinnern wir uns: Der MarTech-Boom versprach damals nichts weniger als die Revolution des Marketings.Zwischen 2011 und 2020 explodierte die Zahl der Anbieter von bescheidenen 150 auf über 8.000. Jedes Tool wollte das Marketing effizienter, datengetriebener und automatisierter machen. Heute erleben wir eine ähnliche Explosion im KI-Sektor, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Während MarTech lediglich einen spezifischen Unternehmensbereich transformierte, greift KI tief in die DNA eines jeden Geschäftsprozesses ein.

Auch die vergleichsweise einfache Entwicklung neuer KI-Tools wird bei einem Website Besuch auf There’s an ai for that durch die sage und schreibe 23.551 KIs für 15.641 Tasks und 4.879 Jobs schnell deutlich. Will sagen: Heutzutage kann jeder einen Chatbot bauen, einen System-Prompt dahinterklemmen und ein paar Dokumente anreichern und damit Geld verdienen. Deshalb sollte man sich genau anschauen, wie etwas betrieben wird, bevor man es nutzt. Auch der Hype Cycle von Gartner zeigt, dass wir uns auf dem Weg ins Tal der Enttäuschung befinden und lässt darauf schließen, dass sich einige der Anbieter bereits in ein paar Monaten nicht mehr auf der Liste befinden werden.

Die Parallelen zu MarTech sind verblüffend: In nur zwei Jahren ist die KI-Landschaft von einer Handvoll Pioniere auf über 5.000 Startups angewachsen. Jedes verspricht, die Art und Weise zu revolutionieren, wie wir arbeiten, Entscheidungen treffen oder Werte schaffen. Doch mit dem explosiven Wachstum kehren auch bekannte Herausforderungen zurück.

Die Integrationsfalle 2.0

Unternehmen stehen heute vor einem ähnlichen Dilemma wie damals: Wie integriert man eine Vielzahl von Lösungen zu einem kohärenten Ganzen? Wohin mit den Daten und wie sicher speichern und verarbeiten? On-Prem oder doch auf der Cloud?
Die "KI-Stack-Fragmentierung" erinnert damit stark an die Integrationsprobleme der MarTech-Ära – nur in komplexer. Während es damals um die Vernetzung von Marketing-Tools ging, müssen heute KI-Lösungen bereichsübergreifend harmonieren.

Neue Spielregeln, neue Chancen

Doch es wäre zu einfach, die KI-Revolution als bloße Wiederholung zu sehen. Die globale Dimension schafft neue Dynamiken: Anders als beim MarTech-Boom, der stark vom Silicon Valley geprägt war, entstehen KI-Innovationszentren weltweit – von Tel Aviv bis Toronto. Diese geografische Vielfalt bringt nicht nur neue Perspektiven, sondern auch komplexere regulatorische Anforderungen mit sich.

So spielt beispielsweise der Nachhaltigkeitsaspekt eine völlig neue Rolle. Entsprechend rückt der Energieverbrauch von KI-Systemen zunehmend in den Fokus – ein Faktor, der bei MarTech-Entscheidungen irrelevant war. Heißt im Klartext: Unternehmen müssen heute nicht nur die funktionale Integration, sondern auch die ökologischen Auswirkungen ihrer Tech-Stack-Entscheidungen im Blick haben.

Viele von ihnen haben zudem eine weitere zentrale Sorge, die lange vor der nachhaltigen Energieversorgung kommt: die Pricing Problematik. Dazu sollte man sich bewusst machen, dass man bei der Nutzung von generativer KI nicht nur die Ergebnisse bzw. Antworten bezahlt, sondern auch die Worte aka Token, die man als Prompt eingibt. Es wird also gleich doppelt abgerechnet, einmal vorne und einmal hinten. Das sogenannte Inferencing sorgt für einen echten Goldrausch, denn das Verarbeiten und Analysieren ist ein riesiger ungehobener Schatz in Form von ungenutzten Daten aller Firmen und Organisationen, der noch auf Papier, Harddrives oder lokalen Speichern aufbewahrt wird und stetig weiterwächst.

KI-Transformation 2024: Ein pragmatischer Ansatz für Unternehmen

Was bedeutet das nun für Entscheider*innen? Die Erfahrungen aus dem MarTech-Boom lehren uns: Nachhaltiges Wachstum schlägt schnelle Expansion. Unternehmen sollten sich auf klare Problem-Solution-Fits konzentrieren, statt jedem Trend hinterherzulaufen. Der Schlüssel liegt daher nicht per se in der breiten Einführung von KI-Tools, sondern in der gezielten Lösung spezifischer Probleme. Dabei gibt es vor allem drei grundlegende Herausforderungen:

1. KI-Literacy

Einer der Gründe, warum wir aktuell im Hype Cycle ins Tal der Enttäuschung schlittern, ist das fehlende Verständnis der tatsächlichen Capabilities von KI und generativer KI. Es fällt häufig nicht nur die Unterscheidung zwischen den beiden schwer, sondern es hapert auch an der Art, auf Prozesse zu schauen und sie neu zu denken. Man will ja nicht bestehende Dinge optimieren, die von vorneherein keinen Sinn ergeben, oder? Aber um genau diese neue Art des Denkens zu ermöglichen, braucht es:

2. Enablement & Raum für Innovation

Es mag ja sein, dass der größte Value von KI in der konkreten Lösung von spezifischen Teilprozessen liegt, aktuell kann man allein schon mit Large Language Modellen (LLM) seinen Mitarbeiter*innen einen Coworker zur Seite stellen, der im Alltag unterstützt. Deshalb ist es umso wichtiger, allen Mitarbeiter*innen die Möglichkeit zu geben, mit der Technologie zu experimentieren und zu üben. Gut möglich, dass die großen Potenziale erst gehoben werden können, wenn eine kritische Masse der Organisation genug Erfahrungen gemacht hat, um die aktuellen Capabilities zu nutzen und sich auf Basis dessen eine eigene Lösung zu erarbeiten.

3. Domain-Wissen

Jeder schaut in Richtung KI-Expert*innen, aber erfolgreiche Unternehmen setzen auf einen hybriden Ansatz: KI-Expert*innen arbeiten Hand in Hand mit Domain-Expert*innen. Diese Kombination garantiert, dass technologische Innovation und praktische Anwendbarkeit im Gleichgewicht bleiben. Denn gerade heute, wo sich ganze Applikationen nur per Sprachbefehl entwickeln lassen, ist es einfach, eine Anwendung zu bauen und noch einfacher diese an den eigentlichen Bedürfnissen und Anforderungen der Domäne zu orientieren.

4. KI-Agenten suchen ein Zuhause

Ähnlich wie in der MarTech-Bubble ergibt sich aus der Vielzahl der Tools ein Spannungsfeld zwischen zu vielen Tools und zu wenig Anbindung. Im Kontext von KI wird dies bei Agentic AI Use-Cases deutlich. Man spricht zunächst von Agentic AI, wenn ein KI -Modell Zugriff auf verschiedene Werkzeuge wie bspw. einen Taschenrechner hat. Hierbei halluziniert dann kein LLM mehr über die Summe von 3+3, sondern nutzt einen Taschenrechner und liefert das Ergebnis über das LLM zurück an den User bzw. die Userin. Lässt man die verschiedenen KI-Agenten von der Leine, stellt sich schnell die Aufgabe, diese auch wieder untereinander zu orchestrieren, ohne zig User Interfaces zu bauen und eine neue Ära des Copy & Paste zu erschaffen.

Blick in die Zukunft

Die Geschichte lehrt uns: Nach jedem Boom folgt eine Konsolidierung. Doch die KI-Revolution ist mehr als ein weiterer Technologie-Hype. Sie verändert fundamental, wie Unternehmen Wert schaffen und mit ihren Kunden interagieren. Die Gewinner werden jene sein, die aus den Mustern der Vergangenheit lernen und gleichzeitig die spezifischen Chancen und Herausforderungen erkennen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt nicht darin, blind dem Hype Cycle zu folgen, sondern KI sinnvoll als strategisches Werkzeug der digitalen Transformation zu nutzen. Zentral dabei: die Einführung eines KI-Governance-Boards, das quartalsweise die Strategie überprüft und anpasst.

Unternehmen, die das verstehen, werden die nächste Phase der technologischen Evolution nicht nur überstehen, sondern aktiv mitgestalten. Denn diese Agilität ist entscheidend in einem Markt, der sich ständig weiterentwickelt.

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