"Erstmal Überblick über die Daten verschaffen"

Interview

5 Minuten

28.10.2021

Helmut van Rinsum

Portrait von Theo Steininger

Theo Steininger, CEO von Erium, ist promovierter Astrophysiker und KI-Experte. Im Interview erklärt er, was Künstliche Intelligenz für den E-Commerce und das Marketing bringen kann, wann sich ein Einsatz lohnt und welche Fehler man vermeiden sollte. Seine Devise: Erst einmal einen Überblick über die Datenlage verschaffen. Und: Bitte kein Megaprojekt, sondern erst eine Struktur, die KI-ready ist. 

Theo, zum Einstieg vielleicht erstmal die Frage: Wo steht Künstliche Intelligenz heute eigentlich? Wieviel hat sich in den vergangenen Jahren getan?

Theo Steininger: Wir hatten die ersten Berührungspunkte mit KI im Jahr 2016. Damals steckte das Thema zumindest bei der deutschen Industrie noch total in den Kinderschuhen. Keiner wusste, wie die Begriffe definiert und zu verstehen sind, welche Möglichkeiten sich dahinter verbergen. Kaum einer kannte den Unterschied zwischen Machine Learning, Big Data und KI. Und der Begriff Industrie 4.0, der absichtlich schwammig gewählt wurde, hat dem Ganzen dann noch die Krone aufgesetzt. Also: Niemand hatte wirklich Ahnung, aber keiner wollte den Zug verpassen.

Hat sich das inzwischen gravierend geändert?

Steininger: Stand heute sehen wir, dass sich sehr viel getan hat und dass es in allen Bereichen einen großen Schritt in Richtung Standardisierung gibt. Es gibt standardisierte Workshop-Prozesse, standardisierte Pilot-Entwicklungen, ähnlich ist es bei Plattformen und Infrastruktur. Ich kann heute innerhalb von nur fünf Minuten eine Umgebung buchen, die es mir ermöglicht, eine komplette MLOps-Pipeline aufzusetzen. Das hilft, die Kosten zu drücken, das Risiko zu senken und KI auch Firmen zugänglich zu machen, die einfach keinen sieben- oder achtstelligen Betrag auf Verdacht in ein neues Thema investieren können. Mit solchen Standard-Use-Cases wird KI auch für den Mittelstand einfacher nutzbar.

Welche Bereiche betrifft das besonders?

Steiniger: Das sind einerseits Bereiche, die über eine sehr gute Datenqualität verfügen, viel davon im E-Commerce, wo ich über die Onlineshop-Metriken bereits einen gut interpretierbaren Datensatz habe. In Bereichen, in denen physische Systeme Daten erfassen, also im Bereich der Anlagen- und Automatisierungstechnik, ist die Anlaufkurve hingegen länger. Aber auch dort gibt es mittlerweile Standard Use Cases wie Predictive Maintenance, die ich als Add-on buchen kann.

Voraussetzung dafür sind viele und hochwertige Daten.

Steininger: Genau. Und sie müssen repräsentativ für den aktuellen Zeitraum sein. Woran erkenne ich das? Klares Unterscheidungsmerkmal ist die Frage: Wurde mit den Daten auch bisher schon gearbeitet, nur noch nicht mit statistischen Methoden? Oder wurde mit den Daten noch nicht gearbeitet? Das ist ein ganz krasser Diskriminator, der bei einem unserer Projekte zu einem Faktor-50-Unterschied in der Projektgeschwindigkeit geführt hat. Beispiel E-Commerce: Wenn ich Daten verwenden kann, die ich auch schon bisher in meinem Daily Job benutzt habe und daraus versucht habe, als Mensch meine Schlüsse zu ziehen, dann ist das ein guter Ausgangspunkt. Denn ich kann relativ sicher sein, dass die Daten valide sind, da ich sie jeden Tag gecheckt habe. Jetzt aber setze ich eines obendrauf: eine Statistik, die in der Lage ist, komplexere Zusammenhänge zu erkennen.

Wo im E-Commerce ist es denn sinnvoll, komplexere Zusammenhänge erkennen zu wollen?

Steininger: In dem Bereich, in dem ich tatsächlich einen Handlungsbedarf habe. Ich halte relativ wenig davon, auf Verdacht einen Datensatz in eine Black Box zu stecken und dann zu schauen, ob ich Korrelationen finde. Das ist Spielerei. Das meiste, das sich finde, werden Trivialitäten sein. Ich sollte vielmehr an konkreten Pain Points interessiert sein. Also konkrete Handlungsempfehlungen wie zum Beispiel: Soll ich eine bestimmte Marketingmaßnahme einleiten oder besser nicht?

Es dürfte nicht einfach sein, darauf eine eindeutige Antwort zu finden…

Steininger: Klar, das ist schwierig, denn das betrachtete Objekt ist eine nicht beschreibbare, chaotische Welt, um die es geht, keine Maschine mit Datenblatt. Der zweite Punkt ist, dass ich durch meine Maßnahme mit dieser Welt in Wechselwirkung trete. Wenn ich eine Marketingmaßnahme schalte, verändere ich das Verhalten meiner Zielgruppe und damit nehme ich Einfluss auf die zukünftigen Daten. Jetzt muss ich aber unterscheiden, was Ursache und was Wirkung ist. Das ist ein Bereich, in dem Machine Learning heute tatsächlich an seine Grenzen stößt. Da müsste man dann so etwas wie eine kausale Schlussfolgerungsmechanik einsetzen, wie wir sie in den letzten Monaten entwickelt haben. Da wird dann nochmal ganz klar modelliert: Wie sind zum Beispiel die Zusammenhänge zwischen Haushaltseinkommen und der Inanspruchnahme eines Coupons für einen Einkauf? Mit einer Statistik alleine kann ich nicht unterscheiden, ob der Coupon deshalb eingelöst wurde, weil das Haushaltseinkommen niedrig war. Oder – und das erscheint einem Algorithmus nämlich erstmal genauso plausibel – war das Haushaltseinkommen niedrig, weil ein Coupon genutzt wurde? Oder gibt es vielleicht gar keinen direkten Zusammenhang und die Korrelation ist das Ergebnis einer dritten, versteckten Einflussgröße? Für uns Menschen ist das häufig klar. Aber für einen Machine-Learning-Algorithmus, der auf Statistik basiert, ist das nicht zu unterscheiden. Bei Einzeleffekten bekommt man das vielleicht noch in den Griff. Aber wenn es dann verkettete, komplexe Wechselwirkungen werden, dann wird es richtig kompliziert. Und diese hat man in Praxis eigentlich immer.

Diese Grafik zeigt, wie die Plattform Halerium arbeitet

Erium betreibt die Plattform Halerium: Sie nutzt KI und wird in Unternehmen zur Prozessoptimierung eingesetzt.

Aber was bedeutet das für den Einsatz von KI im Marketing? Muss ich das Handlungsfeld möglichst eng definieren, um zu schlüssigen Analysen zu kommen?

Steininger: Marketing ist aufgrund dieser superkomplexen Welt noch eher in der Findung. Man muss deshalb sehr spitze Use Cases mit möglichst wenig Wechselwirkungen und Abhängigkeiten definieren. Außerdem brauche ich eine gute Datenbasis, beispielsweise Telemetrie-Daten eines Smartphones. Wichtig ist auch die Vorgehensweise. Alle meine Gesprächspartner betonen immer wieder die Interdisziplinarität der Teams. Du brauchst Experten mit Berufserfahrung, die wissen, wie Marketing funktioniert – das weiß ein Data Scientist nicht von vornherein. Marketingexperten aber wiederum gehen gerne menschlichen Fehlinterpretationen auf den Leim, wohingegen ein Data Scientist weiß, dass er einen Datensatz nicht naiv interpretieren darf. Da ergänzen sich diese beiden Welten. Beim konkreten Ausarbeiten der Lösung wiederum brauche ich Software-Ingenieure, keine Data Scientists. Die sind in der Regel leider schlechte Programmierer. Es ist also kein Lonesome Fighter, der in der Firma sitzt und eine KI an den Start bringt, sondern größere Teams mit mindestens fünf Personen. 

Wo sollte ein Unternehmen ansetzen, wenn es KI im Marketing erstmals einsetzen will?

Steininger: Das kommt darauf an. Es gibt Firmen, die noch gar nichts mit ihren Daten machen und jetzt sofort drei Schritte überspringen und KI einsetzen wollen. Da lautet unser Rat: Mache es nicht! Verschaffe Dir erst einmal einen grundsätzlichen Überblick darüber, welche Daten theoretisch vorliegen und welche die geschäftskritischsten sind. Die sollten wir uns dann erst einmal ansehen. 80 Prozent des Mehrwerts wird oft schon durch die reine Visualisierung geschaffen, womit der Kunde erstmal happy ist und das Interesse daran verliert, weiter Geld in KI zu stecken. Er muss erstmal die Erkenntnisse aus der Visualisierung aufarbeiten und umsetzen. Ein Kunde, der noch nicht mit Daten arbeitet, muss die Grundlagen haben, um eines Tages KI einsetzen zu können. Also bitte kein Megaprojekt, aber eine Struktur schaffen, die KI-ready ist.

Was ist mit den Kunden, die bereits Daten haben, beispielsweise CRM-Daten. Können die darauf aufsetzen?

Steininger: Meines Erachtens werden viel zu viele Daten auf Verdacht gesammelt. Viel zu selten wird der Zyklus durchlaufen: Use Case Identifikation, Daten-Identifikation, Datensammeln, Modell Building, Training, Auswertung. Viele bleiben in den ersten Phasen stecken, weil sie glauben, nicht genug Daten zu haben. Wenn man bisher im Bereich Business Intelligence mit Daten gearbeitet hat, wäre aus meiner Sicht ein guter Schritt zu prüfen, welche standardisierten Lösungen es aus Use Cases schon gibt. Beispiel: Wenn ich bisher eine Absatzprognose mit Excel und Bauchgefühl erstellt habe, kann ich einen relativ guten, standardisierten Ansatz heranziehen, der die saisonalen Effekte bestmöglich wiedergibt.

Man könnte also drei Stufen definieren. Erstens: Schau Dir erstmal Deine Daten an. Zweitens: Nimm einen standardisierten Use Case. Drittens: Identifiziere die nicht standardisierten Fragestellungen und diskutiere diese mit Deinem interdisziplinären Team, das dann ganz fokussiert ein Product Development macht. Da will ich – provokant formuliert – aber auch erst einmal sehen, ob es dazu überhaupt noch kommt. Oder ob ein Mittelständler nicht mit dem zweiten Schritt bereits zufrieden ist.

Diese Grafik zeigt, wie die Plattform Halerium arbeitet

Die Plattform Halerium wurde entwickelt, um auch aus unklaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen die richtigen Schlüsse zu ziehen

Muss ein Unternehmen eine bestimmte Größe, bestimmte finanzielle Ressourcen haben, damit sich der Einsatz von KI lohnt?

Steininger: Da muss man zwei Achsen unterscheiden: Bei einer Standardisierung kann ich über die Skaleneffekte sehr günstig KI nutzen. Wenn es in Richtung Custom Lösung geht, brauche ich mehr Ressourcen, allein schon, weil Data Scientists teuer sind. Konzerne und der gehobene Mittelstand pumpen auch schon mal in reine Experimente beachtliche Budgets. Aber auch für kleinere Firmen mit weniger als zehn Mitabeiter:innen kann sich KI lohnen, wenn es den Kern der  Expertise betrifft. Wenn ich eine Agentur bin, die sich auf das Verstehen eines bestimmten Marktzusammenhangs spezialisiert hat und ich hier durch den Einsatz von KI besser werden kann, dann lohnt sich ein spitzes Investment. Aber bitte nichts Generisches.

Woran merke ich, ob ich auf dem richtigen Weg bin oder mich gerade verzettele?

Steininger: Wenn man im Brainstorming auf die Idee kommt, sein Produktportfolio oder sein Geschäftsfeld außerhalb der eigenen Expertise zu erweitern. Dann wird es gefährlich. Denn man begibt sich dann in einen Bereich, der nichts mit der eigentlichen Kernkompetenz zu tun hat. Wenn man nicht in einem Mischkonzern wie IBM arbeitet, sollte man davon besser die Finger lassen.

Jetzt ist Marketing nicht unbedingt Kernkompetenz von Erium. Auf was habt Ihr Euch spezialisiert?

Steininger: Marketing ist nicht Kern unserer bisherigen Projektarbeit, aber ein sehr spannendes Umfeld für unsere künftige Unternehmensentwicklung. Wir haben in unseren bisherigen Projekten immer dadurch geglänzt, dass wir sehr gut darin waren, spezifisches Expertenwissen in Machine-Learning-Modellen abzubilden. Dazu haben wir auch ein Produkt entwickelt – mit dem Fokus zunächst auf Automobil und Produktion. Darüber sind wir in den Bereich Sales Forecasting vorgestoßen und haben den Gedanken weiterverfolgt, eine Machine-Learning-Lösung auf Basis des Expertenwissens und nicht auf Basis eines abstrakten Datensatzes zu bauen. Wir können heute mit einem Software-Tool für das Wissensmanagement Data Scientists, egal aus welchem Bereich, dazu befähigen, ihren jeweiligen Use Case und seine Zusammenhänge besser zu verstehen. Damit sind wir also unabhängig von der konkreten Industrie. Das ist für das Marketing hoch interessant.

Das Interview führte Helmut van Rinsum

Dr. Theo Steininger ist Mitgründer und CEO der Erium GmbH. Er ist Experte für KI-Anwendungen und Machine Learning in komplexen Prozessen mit wenig Daten. Als promovierter Astrophysiker hat er bereits während seiner Zeit an der Technischen Universität München und am Max-Planck Institut für Astrophysik viel Erfahrung mit Statistik, Machine Learning und Künstlicher Intelligenz gesammelt. Heute wendet er sein Wissen in der Industrie an, um Unsicherheiten zu reduzieren und Entscheidungsprozesse zu unterstützen.

Weitere Interviews:
Henrik Roth: Eine neue Zeitrechnung des Marketing
Simon Alger: „Die Erwartung an intelligente Software wächst“
Raphael Schaad: „Bald haben alle ihre eigenen Sprachassistenten“

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28.10.2021

Helmut van Rinsum

Portrait von Theo Steininger

Theo Steininger, CEO von Erium, ist promovierter Astrophysiker und KI-Experte. Im Interview erklärt er, was Künstliche Intelligenz für den E-Commerce und das Marketing bringen kann, wann sich ein Einsatz lohnt und welche Fehler man vermeiden sollte. Seine Devise: Erst einmal einen Überblick über die Datenlage verschaffen. Und: Bitte kein Megaprojekt, sondern erst eine Struktur, die KI-ready ist. 

Theo, zum Einstieg vielleicht erstmal die Frage: Wo steht Künstliche Intelligenz heute eigentlich? Wieviel hat sich in den vergangenen Jahren getan?

Theo Steininger: Wir hatten die ersten Berührungspunkte mit KI im Jahr 2016. Damals steckte das Thema zumindest bei der deutschen Industrie noch total in den Kinderschuhen. Keiner wusste, wie die Begriffe definiert und zu verstehen sind, welche Möglichkeiten sich dahinter verbergen. Kaum einer kannte den Unterschied zwischen Machine Learning, Big Data und KI. Und der Begriff Industrie 4.0, der absichtlich schwammig gewählt wurde, hat dem Ganzen dann noch die Krone aufgesetzt. Also: Niemand hatte wirklich Ahnung, aber keiner wollte den Zug verpassen.

Hat sich das inzwischen gravierend geändert?

Steininger: Stand heute sehen wir, dass sich sehr viel getan hat und dass es in allen Bereichen einen großen Schritt in Richtung Standardisierung gibt. Es gibt standardisierte Workshop-Prozesse, standardisierte Pilot-Entwicklungen, ähnlich ist es bei Plattformen und Infrastruktur. Ich kann heute innerhalb von nur fünf Minuten eine Umgebung buchen, die es mir ermöglicht, eine komplette MLOps-Pipeline aufzusetzen. Das hilft, die Kosten zu drücken, das Risiko zu senken und KI auch Firmen zugänglich zu machen, die einfach keinen sieben- oder achtstelligen Betrag auf Verdacht in ein neues Thema investieren können. Mit solchen Standard-Use-Cases wird KI auch für den Mittelstand einfacher nutzbar.

Welche Bereiche betrifft das besonders?

Steiniger: Das sind einerseits Bereiche, die über eine sehr gute Datenqualität verfügen, viel davon im E-Commerce, wo ich über die Onlineshop-Metriken bereits einen gut interpretierbaren Datensatz habe. In Bereichen, in denen physische Systeme Daten erfassen, also im Bereich der Anlagen- und Automatisierungstechnik, ist die Anlaufkurve hingegen länger. Aber auch dort gibt es mittlerweile Standard Use Cases wie Predictive Maintenance, die ich als Add-on buchen kann.

Voraussetzung dafür sind viele und hochwertige Daten.

Steininger: Genau. Und sie müssen repräsentativ für den aktuellen Zeitraum sein. Woran erkenne ich das? Klares Unterscheidungsmerkmal ist die Frage: Wurde mit den Daten auch bisher schon gearbeitet, nur noch nicht mit statistischen Methoden? Oder wurde mit den Daten noch nicht gearbeitet? Das ist ein ganz krasser Diskriminator, der bei einem unserer Projekte zu einem Faktor-50-Unterschied in der Projektgeschwindigkeit geführt hat. Beispiel E-Commerce: Wenn ich Daten verwenden kann, die ich auch schon bisher in meinem Daily Job benutzt habe und daraus versucht habe, als Mensch meine Schlüsse zu ziehen, dann ist das ein guter Ausgangspunkt. Denn ich kann relativ sicher sein, dass die Daten valide sind, da ich sie jeden Tag gecheckt habe. Jetzt aber setze ich eines obendrauf: eine Statistik, die in der Lage ist, komplexere Zusammenhänge zu erkennen.

Wo im E-Commerce ist es denn sinnvoll, komplexere Zusammenhänge erkennen zu wollen?

Steininger: In dem Bereich, in dem ich tatsächlich einen Handlungsbedarf habe. Ich halte relativ wenig davon, auf Verdacht einen Datensatz in eine Black Box zu stecken und dann zu schauen, ob ich Korrelationen finde. Das ist Spielerei. Das meiste, das sich finde, werden Trivialitäten sein. Ich sollte vielmehr an konkreten Pain Points interessiert sein. Also konkrete Handlungsempfehlungen wie zum Beispiel: Soll ich eine bestimmte Marketingmaßnahme einleiten oder besser nicht?

Es dürfte nicht einfach sein, darauf eine eindeutige Antwort zu finden…

Steininger: Klar, das ist schwierig, denn das betrachtete Objekt ist eine nicht beschreibbare, chaotische Welt, um die es geht, keine Maschine mit Datenblatt. Der zweite Punkt ist, dass ich durch meine Maßnahme mit dieser Welt in Wechselwirkung trete. Wenn ich eine Marketingmaßnahme schalte, verändere ich das Verhalten meiner Zielgruppe und damit nehme ich Einfluss auf die zukünftigen Daten. Jetzt muss ich aber unterscheiden, was Ursache und was Wirkung ist. Das ist ein Bereich, in dem Machine Learning heute tatsächlich an seine Grenzen stößt. Da müsste man dann so etwas wie eine kausale Schlussfolgerungsmechanik einsetzen, wie wir sie in den letzten Monaten entwickelt haben. Da wird dann nochmal ganz klar modelliert: Wie sind zum Beispiel die Zusammenhänge zwischen Haushaltseinkommen und der Inanspruchnahme eines Coupons für einen Einkauf? Mit einer Statistik alleine kann ich nicht unterscheiden, ob der Coupon deshalb eingelöst wurde, weil das Haushaltseinkommen niedrig war. Oder – und das erscheint einem Algorithmus nämlich erstmal genauso plausibel – war das Haushaltseinkommen niedrig, weil ein Coupon genutzt wurde? Oder gibt es vielleicht gar keinen direkten Zusammenhang und die Korrelation ist das Ergebnis einer dritten, versteckten Einflussgröße? Für uns Menschen ist das häufig klar. Aber für einen Machine-Learning-Algorithmus, der auf Statistik basiert, ist das nicht zu unterscheiden. Bei Einzeleffekten bekommt man das vielleicht noch in den Griff. Aber wenn es dann verkettete, komplexe Wechselwirkungen werden, dann wird es richtig kompliziert. Und diese hat man in Praxis eigentlich immer.

Diese Grafik zeigt, wie die Plattform Halerium arbeitet

Erium betreibt die Plattform Halerium: Sie nutzt KI und wird in Unternehmen zur Prozessoptimierung eingesetzt.

Aber was bedeutet das für den Einsatz von KI im Marketing? Muss ich das Handlungsfeld möglichst eng definieren, um zu schlüssigen Analysen zu kommen?

Steininger: Marketing ist aufgrund dieser superkomplexen Welt noch eher in der Findung. Man muss deshalb sehr spitze Use Cases mit möglichst wenig Wechselwirkungen und Abhängigkeiten definieren. Außerdem brauche ich eine gute Datenbasis, beispielsweise Telemetrie-Daten eines Smartphones. Wichtig ist auch die Vorgehensweise. Alle meine Gesprächspartner betonen immer wieder die Interdisziplinarität der Teams. Du brauchst Experten mit Berufserfahrung, die wissen, wie Marketing funktioniert – das weiß ein Data Scientist nicht von vornherein. Marketingexperten aber wiederum gehen gerne menschlichen Fehlinterpretationen auf den Leim, wohingegen ein Data Scientist weiß, dass er einen Datensatz nicht naiv interpretieren darf. Da ergänzen sich diese beiden Welten. Beim konkreten Ausarbeiten der Lösung wiederum brauche ich Software-Ingenieure, keine Data Scientists. Die sind in der Regel leider schlechte Programmierer. Es ist also kein Lonesome Fighter, der in der Firma sitzt und eine KI an den Start bringt, sondern größere Teams mit mindestens fünf Personen. 

Wo sollte ein Unternehmen ansetzen, wenn es KI im Marketing erstmals einsetzen will?

Steininger: Das kommt darauf an. Es gibt Firmen, die noch gar nichts mit ihren Daten machen und jetzt sofort drei Schritte überspringen und KI einsetzen wollen. Da lautet unser Rat: Mache es nicht! Verschaffe Dir erst einmal einen grundsätzlichen Überblick darüber, welche Daten theoretisch vorliegen und welche die geschäftskritischsten sind. Die sollten wir uns dann erst einmal ansehen. 80 Prozent des Mehrwerts wird oft schon durch die reine Visualisierung geschaffen, womit der Kunde erstmal happy ist und das Interesse daran verliert, weiter Geld in KI zu stecken. Er muss erstmal die Erkenntnisse aus der Visualisierung aufarbeiten und umsetzen. Ein Kunde, der noch nicht mit Daten arbeitet, muss die Grundlagen haben, um eines Tages KI einsetzen zu können. Also bitte kein Megaprojekt, aber eine Struktur schaffen, die KI-ready ist.

Was ist mit den Kunden, die bereits Daten haben, beispielsweise CRM-Daten. Können die darauf aufsetzen?

Steininger: Meines Erachtens werden viel zu viele Daten auf Verdacht gesammelt. Viel zu selten wird der Zyklus durchlaufen: Use Case Identifikation, Daten-Identifikation, Datensammeln, Modell Building, Training, Auswertung. Viele bleiben in den ersten Phasen stecken, weil sie glauben, nicht genug Daten zu haben. Wenn man bisher im Bereich Business Intelligence mit Daten gearbeitet hat, wäre aus meiner Sicht ein guter Schritt zu prüfen, welche standardisierten Lösungen es aus Use Cases schon gibt. Beispiel: Wenn ich bisher eine Absatzprognose mit Excel und Bauchgefühl erstellt habe, kann ich einen relativ guten, standardisierten Ansatz heranziehen, der die saisonalen Effekte bestmöglich wiedergibt.

Man könnte also drei Stufen definieren. Erstens: Schau Dir erstmal Deine Daten an. Zweitens: Nimm einen standardisierten Use Case. Drittens: Identifiziere die nicht standardisierten Fragestellungen und diskutiere diese mit Deinem interdisziplinären Team, das dann ganz fokussiert ein Product Development macht. Da will ich – provokant formuliert – aber auch erst einmal sehen, ob es dazu überhaupt noch kommt. Oder ob ein Mittelständler nicht mit dem zweiten Schritt bereits zufrieden ist.

Diese Grafik zeigt, wie die Plattform Halerium arbeitet

Die Plattform Halerium wurde entwickelt, um auch aus unklaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen die richtigen Schlüsse zu ziehen

Muss ein Unternehmen eine bestimmte Größe, bestimmte finanzielle Ressourcen haben, damit sich der Einsatz von KI lohnt?

Steininger: Da muss man zwei Achsen unterscheiden: Bei einer Standardisierung kann ich über die Skaleneffekte sehr günstig KI nutzen. Wenn es in Richtung Custom Lösung geht, brauche ich mehr Ressourcen, allein schon, weil Data Scientists teuer sind. Konzerne und der gehobene Mittelstand pumpen auch schon mal in reine Experimente beachtliche Budgets. Aber auch für kleinere Firmen mit weniger als zehn Mitabeiter:innen kann sich KI lohnen, wenn es den Kern der  Expertise betrifft. Wenn ich eine Agentur bin, die sich auf das Verstehen eines bestimmten Marktzusammenhangs spezialisiert hat und ich hier durch den Einsatz von KI besser werden kann, dann lohnt sich ein spitzes Investment. Aber bitte nichts Generisches.

Woran merke ich, ob ich auf dem richtigen Weg bin oder mich gerade verzettele?

Steininger: Wenn man im Brainstorming auf die Idee kommt, sein Produktportfolio oder sein Geschäftsfeld außerhalb der eigenen Expertise zu erweitern. Dann wird es gefährlich. Denn man begibt sich dann in einen Bereich, der nichts mit der eigentlichen Kernkompetenz zu tun hat. Wenn man nicht in einem Mischkonzern wie IBM arbeitet, sollte man davon besser die Finger lassen.

Jetzt ist Marketing nicht unbedingt Kernkompetenz von Erium. Auf was habt Ihr Euch spezialisiert?

Steininger: Marketing ist nicht Kern unserer bisherigen Projektarbeit, aber ein sehr spannendes Umfeld für unsere künftige Unternehmensentwicklung. Wir haben in unseren bisherigen Projekten immer dadurch geglänzt, dass wir sehr gut darin waren, spezifisches Expertenwissen in Machine-Learning-Modellen abzubilden. Dazu haben wir auch ein Produkt entwickelt – mit dem Fokus zunächst auf Automobil und Produktion. Darüber sind wir in den Bereich Sales Forecasting vorgestoßen und haben den Gedanken weiterverfolgt, eine Machine-Learning-Lösung auf Basis des Expertenwissens und nicht auf Basis eines abstrakten Datensatzes zu bauen. Wir können heute mit einem Software-Tool für das Wissensmanagement Data Scientists, egal aus welchem Bereich, dazu befähigen, ihren jeweiligen Use Case und seine Zusammenhänge besser zu verstehen. Damit sind wir also unabhängig von der konkreten Industrie. Das ist für das Marketing hoch interessant.

Das Interview führte Helmut van Rinsum

Dr. Theo Steininger ist Mitgründer und CEO der Erium GmbH. Er ist Experte für KI-Anwendungen und Machine Learning in komplexen Prozessen mit wenig Daten. Als promovierter Astrophysiker hat er bereits während seiner Zeit an der Technischen Universität München und am Max-Planck Institut für Astrophysik viel Erfahrung mit Statistik, Machine Learning und Künstlicher Intelligenz gesammelt. Heute wendet er sein Wissen in der Industrie an, um Unsicherheiten zu reduzieren und Entscheidungsprozesse zu unterstützen.

Weitere Interviews:
Henrik Roth: Eine neue Zeitrechnung des Marketing
Simon Alger: „Die Erwartung an intelligente Software wächst“
Raphael Schaad: „Bald haben alle ihre eigenen Sprachassistenten“

"Erstmal Überblick über die Daten verschaffen"

Interview

5 Minuten

28.10.2021

Helmut van Rinsum

Portrait von Theo Steininger

Theo Steininger, CEO von Erium, ist promovierter Astrophysiker und KI-Experte. Im Interview erklärt er, was Künstliche Intelligenz für den E-Commerce und das Marketing bringen kann, wann sich ein Einsatz lohnt und welche Fehler man vermeiden sollte. Seine Devise: Erst einmal einen Überblick über die Datenlage verschaffen. Und: Bitte kein Megaprojekt, sondern erst eine Struktur, die KI-ready ist. 

Theo, zum Einstieg vielleicht erstmal die Frage: Wo steht Künstliche Intelligenz heute eigentlich? Wieviel hat sich in den vergangenen Jahren getan?

Theo Steininger: Wir hatten die ersten Berührungspunkte mit KI im Jahr 2016. Damals steckte das Thema zumindest bei der deutschen Industrie noch total in den Kinderschuhen. Keiner wusste, wie die Begriffe definiert und zu verstehen sind, welche Möglichkeiten sich dahinter verbergen. Kaum einer kannte den Unterschied zwischen Machine Learning, Big Data und KI. Und der Begriff Industrie 4.0, der absichtlich schwammig gewählt wurde, hat dem Ganzen dann noch die Krone aufgesetzt. Also: Niemand hatte wirklich Ahnung, aber keiner wollte den Zug verpassen.

Hat sich das inzwischen gravierend geändert?

Steininger: Stand heute sehen wir, dass sich sehr viel getan hat und dass es in allen Bereichen einen großen Schritt in Richtung Standardisierung gibt. Es gibt standardisierte Workshop-Prozesse, standardisierte Pilot-Entwicklungen, ähnlich ist es bei Plattformen und Infrastruktur. Ich kann heute innerhalb von nur fünf Minuten eine Umgebung buchen, die es mir ermöglicht, eine komplette MLOps-Pipeline aufzusetzen. Das hilft, die Kosten zu drücken, das Risiko zu senken und KI auch Firmen zugänglich zu machen, die einfach keinen sieben- oder achtstelligen Betrag auf Verdacht in ein neues Thema investieren können. Mit solchen Standard-Use-Cases wird KI auch für den Mittelstand einfacher nutzbar.

Welche Bereiche betrifft das besonders?

Steiniger: Das sind einerseits Bereiche, die über eine sehr gute Datenqualität verfügen, viel davon im E-Commerce, wo ich über die Onlineshop-Metriken bereits einen gut interpretierbaren Datensatz habe. In Bereichen, in denen physische Systeme Daten erfassen, also im Bereich der Anlagen- und Automatisierungstechnik, ist die Anlaufkurve hingegen länger. Aber auch dort gibt es mittlerweile Standard Use Cases wie Predictive Maintenance, die ich als Add-on buchen kann.

Voraussetzung dafür sind viele und hochwertige Daten.

Steininger: Genau. Und sie müssen repräsentativ für den aktuellen Zeitraum sein. Woran erkenne ich das? Klares Unterscheidungsmerkmal ist die Frage: Wurde mit den Daten auch bisher schon gearbeitet, nur noch nicht mit statistischen Methoden? Oder wurde mit den Daten noch nicht gearbeitet? Das ist ein ganz krasser Diskriminator, der bei einem unserer Projekte zu einem Faktor-50-Unterschied in der Projektgeschwindigkeit geführt hat. Beispiel E-Commerce: Wenn ich Daten verwenden kann, die ich auch schon bisher in meinem Daily Job benutzt habe und daraus versucht habe, als Mensch meine Schlüsse zu ziehen, dann ist das ein guter Ausgangspunkt. Denn ich kann relativ sicher sein, dass die Daten valide sind, da ich sie jeden Tag gecheckt habe. Jetzt aber setze ich eines obendrauf: eine Statistik, die in der Lage ist, komplexere Zusammenhänge zu erkennen.

Wo im E-Commerce ist es denn sinnvoll, komplexere Zusammenhänge erkennen zu wollen?

Steininger: In dem Bereich, in dem ich tatsächlich einen Handlungsbedarf habe. Ich halte relativ wenig davon, auf Verdacht einen Datensatz in eine Black Box zu stecken und dann zu schauen, ob ich Korrelationen finde. Das ist Spielerei. Das meiste, das sich finde, werden Trivialitäten sein. Ich sollte vielmehr an konkreten Pain Points interessiert sein. Also konkrete Handlungsempfehlungen wie zum Beispiel: Soll ich eine bestimmte Marketingmaßnahme einleiten oder besser nicht?

Es dürfte nicht einfach sein, darauf eine eindeutige Antwort zu finden…

Steininger: Klar, das ist schwierig, denn das betrachtete Objekt ist eine nicht beschreibbare, chaotische Welt, um die es geht, keine Maschine mit Datenblatt. Der zweite Punkt ist, dass ich durch meine Maßnahme mit dieser Welt in Wechselwirkung trete. Wenn ich eine Marketingmaßnahme schalte, verändere ich das Verhalten meiner Zielgruppe und damit nehme ich Einfluss auf die zukünftigen Daten. Jetzt muss ich aber unterscheiden, was Ursache und was Wirkung ist. Das ist ein Bereich, in dem Machine Learning heute tatsächlich an seine Grenzen stößt. Da müsste man dann so etwas wie eine kausale Schlussfolgerungsmechanik einsetzen, wie wir sie in den letzten Monaten entwickelt haben. Da wird dann nochmal ganz klar modelliert: Wie sind zum Beispiel die Zusammenhänge zwischen Haushaltseinkommen und der Inanspruchnahme eines Coupons für einen Einkauf? Mit einer Statistik alleine kann ich nicht unterscheiden, ob der Coupon deshalb eingelöst wurde, weil das Haushaltseinkommen niedrig war. Oder – und das erscheint einem Algorithmus nämlich erstmal genauso plausibel – war das Haushaltseinkommen niedrig, weil ein Coupon genutzt wurde? Oder gibt es vielleicht gar keinen direkten Zusammenhang und die Korrelation ist das Ergebnis einer dritten, versteckten Einflussgröße? Für uns Menschen ist das häufig klar. Aber für einen Machine-Learning-Algorithmus, der auf Statistik basiert, ist das nicht zu unterscheiden. Bei Einzeleffekten bekommt man das vielleicht noch in den Griff. Aber wenn es dann verkettete, komplexe Wechselwirkungen werden, dann wird es richtig kompliziert. Und diese hat man in Praxis eigentlich immer.

Diese Grafik zeigt, wie die Plattform Halerium arbeitet

Erium betreibt die Plattform Halerium: Sie nutzt KI und wird in Unternehmen zur Prozessoptimierung eingesetzt.

Aber was bedeutet das für den Einsatz von KI im Marketing? Muss ich das Handlungsfeld möglichst eng definieren, um zu schlüssigen Analysen zu kommen?

Steininger: Marketing ist aufgrund dieser superkomplexen Welt noch eher in der Findung. Man muss deshalb sehr spitze Use Cases mit möglichst wenig Wechselwirkungen und Abhängigkeiten definieren. Außerdem brauche ich eine gute Datenbasis, beispielsweise Telemetrie-Daten eines Smartphones. Wichtig ist auch die Vorgehensweise. Alle meine Gesprächspartner betonen immer wieder die Interdisziplinarität der Teams. Du brauchst Experten mit Berufserfahrung, die wissen, wie Marketing funktioniert – das weiß ein Data Scientist nicht von vornherein. Marketingexperten aber wiederum gehen gerne menschlichen Fehlinterpretationen auf den Leim, wohingegen ein Data Scientist weiß, dass er einen Datensatz nicht naiv interpretieren darf. Da ergänzen sich diese beiden Welten. Beim konkreten Ausarbeiten der Lösung wiederum brauche ich Software-Ingenieure, keine Data Scientists. Die sind in der Regel leider schlechte Programmierer. Es ist also kein Lonesome Fighter, der in der Firma sitzt und eine KI an den Start bringt, sondern größere Teams mit mindestens fünf Personen. 

Wo sollte ein Unternehmen ansetzen, wenn es KI im Marketing erstmals einsetzen will?

Steininger: Das kommt darauf an. Es gibt Firmen, die noch gar nichts mit ihren Daten machen und jetzt sofort drei Schritte überspringen und KI einsetzen wollen. Da lautet unser Rat: Mache es nicht! Verschaffe Dir erst einmal einen grundsätzlichen Überblick darüber, welche Daten theoretisch vorliegen und welche die geschäftskritischsten sind. Die sollten wir uns dann erst einmal ansehen. 80 Prozent des Mehrwerts wird oft schon durch die reine Visualisierung geschaffen, womit der Kunde erstmal happy ist und das Interesse daran verliert, weiter Geld in KI zu stecken. Er muss erstmal die Erkenntnisse aus der Visualisierung aufarbeiten und umsetzen. Ein Kunde, der noch nicht mit Daten arbeitet, muss die Grundlagen haben, um eines Tages KI einsetzen zu können. Also bitte kein Megaprojekt, aber eine Struktur schaffen, die KI-ready ist.

Was ist mit den Kunden, die bereits Daten haben, beispielsweise CRM-Daten. Können die darauf aufsetzen?

Steininger: Meines Erachtens werden viel zu viele Daten auf Verdacht gesammelt. Viel zu selten wird der Zyklus durchlaufen: Use Case Identifikation, Daten-Identifikation, Datensammeln, Modell Building, Training, Auswertung. Viele bleiben in den ersten Phasen stecken, weil sie glauben, nicht genug Daten zu haben. Wenn man bisher im Bereich Business Intelligence mit Daten gearbeitet hat, wäre aus meiner Sicht ein guter Schritt zu prüfen, welche standardisierten Lösungen es aus Use Cases schon gibt. Beispiel: Wenn ich bisher eine Absatzprognose mit Excel und Bauchgefühl erstellt habe, kann ich einen relativ guten, standardisierten Ansatz heranziehen, der die saisonalen Effekte bestmöglich wiedergibt.

Man könnte also drei Stufen definieren. Erstens: Schau Dir erstmal Deine Daten an. Zweitens: Nimm einen standardisierten Use Case. Drittens: Identifiziere die nicht standardisierten Fragestellungen und diskutiere diese mit Deinem interdisziplinären Team, das dann ganz fokussiert ein Product Development macht. Da will ich – provokant formuliert – aber auch erst einmal sehen, ob es dazu überhaupt noch kommt. Oder ob ein Mittelständler nicht mit dem zweiten Schritt bereits zufrieden ist.

Diese Grafik zeigt, wie die Plattform Halerium arbeitet

Die Plattform Halerium wurde entwickelt, um auch aus unklaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen die richtigen Schlüsse zu ziehen

Muss ein Unternehmen eine bestimmte Größe, bestimmte finanzielle Ressourcen haben, damit sich der Einsatz von KI lohnt?

Steininger: Da muss man zwei Achsen unterscheiden: Bei einer Standardisierung kann ich über die Skaleneffekte sehr günstig KI nutzen. Wenn es in Richtung Custom Lösung geht, brauche ich mehr Ressourcen, allein schon, weil Data Scientists teuer sind. Konzerne und der gehobene Mittelstand pumpen auch schon mal in reine Experimente beachtliche Budgets. Aber auch für kleinere Firmen mit weniger als zehn Mitabeiter:innen kann sich KI lohnen, wenn es den Kern der  Expertise betrifft. Wenn ich eine Agentur bin, die sich auf das Verstehen eines bestimmten Marktzusammenhangs spezialisiert hat und ich hier durch den Einsatz von KI besser werden kann, dann lohnt sich ein spitzes Investment. Aber bitte nichts Generisches.

Woran merke ich, ob ich auf dem richtigen Weg bin oder mich gerade verzettele?

Steininger: Wenn man im Brainstorming auf die Idee kommt, sein Produktportfolio oder sein Geschäftsfeld außerhalb der eigenen Expertise zu erweitern. Dann wird es gefährlich. Denn man begibt sich dann in einen Bereich, der nichts mit der eigentlichen Kernkompetenz zu tun hat. Wenn man nicht in einem Mischkonzern wie IBM arbeitet, sollte man davon besser die Finger lassen.

Jetzt ist Marketing nicht unbedingt Kernkompetenz von Erium. Auf was habt Ihr Euch spezialisiert?

Steininger: Marketing ist nicht Kern unserer bisherigen Projektarbeit, aber ein sehr spannendes Umfeld für unsere künftige Unternehmensentwicklung. Wir haben in unseren bisherigen Projekten immer dadurch geglänzt, dass wir sehr gut darin waren, spezifisches Expertenwissen in Machine-Learning-Modellen abzubilden. Dazu haben wir auch ein Produkt entwickelt – mit dem Fokus zunächst auf Automobil und Produktion. Darüber sind wir in den Bereich Sales Forecasting vorgestoßen und haben den Gedanken weiterverfolgt, eine Machine-Learning-Lösung auf Basis des Expertenwissens und nicht auf Basis eines abstrakten Datensatzes zu bauen. Wir können heute mit einem Software-Tool für das Wissensmanagement Data Scientists, egal aus welchem Bereich, dazu befähigen, ihren jeweiligen Use Case und seine Zusammenhänge besser zu verstehen. Damit sind wir also unabhängig von der konkreten Industrie. Das ist für das Marketing hoch interessant.

Das Interview führte Helmut van Rinsum

Dr. Theo Steininger ist Mitgründer und CEO der Erium GmbH. Er ist Experte für KI-Anwendungen und Machine Learning in komplexen Prozessen mit wenig Daten. Als promovierter Astrophysiker hat er bereits während seiner Zeit an der Technischen Universität München und am Max-Planck Institut für Astrophysik viel Erfahrung mit Statistik, Machine Learning und Künstlicher Intelligenz gesammelt. Heute wendet er sein Wissen in der Industrie an, um Unsicherheiten zu reduzieren und Entscheidungsprozesse zu unterstützen.

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